Sonntag, 12. Januar 2014

Ground Control to Major Tom: "Das erstaunliche Leben des Walter Mitty"



Walter Mitty sitzt irgendwo in Grönland in einer Kaschemme. Ein sturzbetrunkener Nordmann singt dort mit feinstem Dialekt und großem Gefühl "Don't You Want Me" von The Human League. Kurze Zeit später wird Walter mit dem Hackedichten in einen Helikopter steigen, im Ozean mit Haien kämpfen und schließlich Berge und Vulkanlandschaften zu Fuß, zu Fahrrad und mit dem Skateboard bezwingen.
In seinen Träumen vielleicht - denn Walter Mitty ist eben ein notorischer Tagträumer, der sich nach 16 Arbeitsjahren längst mit der Monotonie des Alltags und seinem kleinen dunklen Milieu als Fotoarchivar beim etablierten LIFE-Magazin abgefunden hat. Seine von ihm angehimmelte Arbeitskollegin Cheryl (Kristen Wiig) kann er weder im "Real Life" noch auf der Datingwebseite eHarmony anflirten (der Anzwinker-Button ist kaputt!). So behilft er sich mit hätte-wäre-könnte-Wunschträumen inklusive teils abstrusester Superheldentwists. Ob er nun Säuglinge aus brennenden Miethäusern rettet oder in Gestalt eines Schnee-Latinos die Angebetete für sich gewinnt - nichts könnte ferner der Realität sein. Walter ist ein motivationsloser Jedermann, der jetzt noch dazu von seinem neuen Chef schikaniert wird.

Dieser, ein yuppiehaftes Ekel mit Harald Glööckler-Gedächtnisbart, macht jetzt nämlich Nägel mit Köpfen. Das LIFE magazine wird umstrukturiert zur Online-Variante. Walter, Cheryl und viele andere langjährige Mitarbeiter müssen gehen. Ein letzter Auftrag geht an Walter - der legendäre Fotograf Sean o'Connell (Sean Penn) soll das Bildnegativ zum letzten Coverbild der letzten Printausgabe liefern. Ein wettergegerbtes Relikt der analogen Fotografie. Doch wo ist o'Connell? Wo ist das Fotonegativ? O'Connell lässt sich nicht orten, denn er besitzt kein Handy und schickt noch alte Telegrammboten zur Kommunikation mit dem Verlag. Walters Forscherdrang wird zögerlich geweckt - ein schwacher Funken, der etwas in ihm entfacht - lässt sich der Abenteurer im Träumer entfesseln? Zuhause jedenfalls warten nur Hohn und Spott. So gehen ihm spontan die Pferde durch, er steigt ins nächste Flugzeug, auf der Suche nach dem letzten Coverfoto. Das Ziel: Grönland.

Der Name Walter Mitty ist im englischsprachigen Raum bereits ein geflügeltes Wort, Namensgeber für Tagträumer, für "Hans-kuck-in-die-Luft"s geworden, seit ihn James Thurber 1939 in der Zeitung als Kurzgeschichte ersann. Aus den unterschiedlichen Episoden wurde bereits 1947 ein Film gesponnen, der dem Autor selbst aber so gar nicht gefiel. Ben Stiller, Mann mit lustigen Ohren, treudoofem Blick und großem komödiantischen Talent, war öfters schon in melancholischeren Rollen ("Greenberg") zu sehen. Jetzt aber wagte er sich im Bereich Regie nach seinen Schenkelklopfern rund um die Comedy-Kollegen des sogenannten Frat-Packs ("Zoolander", "Tropic Thunder" mit u.a. Owen Wilson, Vince Vaughn, Will Ferrell) an sein nachdenklichstes Projekt, das aber dennoch genug Absurditäten zur Auflockerung bereithält. Drehbuchautor Steven Conrad ("Das Streben nach Glück") wiederum setzte die ursprüngliche Episodengeschichte der gescheiterten Wunschträume in einen aktuellen, medienkritischen Kontext.

Das LIFE magazine, so der traurige, reale Hintergrund der Geschichte, existiert mittlerweile nicht einmal mehr in der Onlinevariante so wirklich. Als die Ära des Printjournalismus langsam dem Ende zugeht, schließt sich für Walter Mitty zwar die Tür zu seiner "comfort zone", aber das Tor zur Welt öffnet sich. Ein Epochenwechsel, der für ihn den buchstäblichen Sprung ins kalte Wasser (den er später tatsächlich vollführen wird) darstellt.
Ben Stillers Walter Mitty hat hier stets das Mitgefühl des Zuschauers auf seiner Seite. Er ist ein trauriger, graubejackter Angestellter, dessen große Zukunftsträume in Kartons in der Wohnung seiner in die Jahre gekommenen Mutter (Shirley MacLaine) abgelegt wurden. Ein alter Wanderrucksack für den nie in die Tat umgesetzten Euro-Trip, ein Reisetagebuch (ebenfalls jungfräulich), Memorabilia zur jugendlichen Skateboardleidenschaft, als Walter noch einen flotten Irokesenschnitt trug und der ganze Stolz des früh verstorbenen Vaters war. Seine Schauspielerkollegen variieren in ihren Performances von arg überzeichnet (Adam Scott als Übergangs-Boss Ted) oder haben ihr übliches Comedypotenzial subtil zurückgefahren (Kristen Wiig, u.a. "Brautalarm"). Erwähnenswert ist auf jeden Fall der Eindruck, den letztendlich Sean Penn als lebensweiser Fotograf in einer kurzen Szene hinterlässt. Wenn Walter Mitty als graue Maus auf der letzten Mission seines Berufs in die weite Welt hinauszieht, ist es die oft erzählte Geschichte von der Selbstfindung im Unbekannten, die Ben Stiller mit dem Überraschungsmoment auf seiner Seite umzusetzen weiß. Die längste Zeit des Films kann man sich nie sicher sein, welche Wendung nach wenigen Sekunden des Fortspinnens nur wieder im plötzlichen Erwachen endet - und was real ist. Walter ist sich irgendwann selbst nicht mehr so sicher.

Filme über Tagträumer sind weiß Gott keine exotischen Früchte im Kinomenü mehr. Von "Die fabelhafte Welt der Amélie" bis zu "The Science of Sleep" sind Tagträume auch die Spielwiese von designtechnisch verspielten, expressionistisch arbeitenden Regisseuren geworden. So einen Hang zur formvollendeten Photoshop-rêverie mag man nun auch Ben Stiller unterstellen. Doch "Das erstaunliche Leben des Walter Mitty" ist mehr. Im ersten Filmdrittel verfeuert er seine grellen, überdrehten Einfälle, die sich aber nie so wirklich ins Gesamtbild einfügen wollen, wie der von "Matrix" inspirierte Superheldenkampf zwischen Walter und Chef Ted um eine "Stretch Armstrong" Puppe. Der Reiz liegt nicht in Walter Mittys Visionen, sondern dem Wilden, dem Unbekannten, da draußen in der großen Welt. Diese große Welt - und das macht den Film so erfrischend - ist so analog und anfassbar wie das Blatt, für das Walter all die Jahre gearbeitet hat. Das bedeutet im Klartext: Großartige Landschaftsaufnahmen, meist von der epischen Weite Islands (die aber wohl auch für die Bebilderung des Himalaya herhalten musste), untermalt von einem mitreißenden, aber auch fast schon stereotypischen Indie-Soundtrack (es ist schließlich eine Tragikomödie), bestehend aus nordischen Künstlern wie den Isländern von "Of Monsters and Men" oder dem Schweden José González. Ja, es passt irgendwo auch ins Indie-Schema von "Garden State" und Konsorten, trifft aber dennoch einen Nerv der Zeit und ist eben wunderbar fotografiert. Mitty kehrt schließlich in bittersüßem Triumph nach Hause zurück. Mit der Erkenntnis, dass der Weg mal wieder das Ziel darstellt. Oder um diese filmische Ode an das Leben eigener Träume mit dem (fiktionalen) Leitspruch des LIFE-Magazins auszudrücken: “To see the world, things dangerous to come to; to see behind walls; to draw closer; to find each other; and to feel. That is the purpose of Life.” Kudos, Mr. Stiller.

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